Mehr haben, mehr geben

Die Oberschicht handelt großzügiger als bisher vermutet

Angehörige der oberen sozialen Schichten sind nicht weniger hilfsbereit als Menschen, die sozial schwächer gestellt sind. Meist sind sie sogar hilfsbereiter, gemeinnütziger und freigiebiger als Menschen unterer sozialer Schichten. Das zeigt jetzt eine Studie deutscher Psychologen der Universität Leipzig und der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Die Forschungsergebnisse räumen mit der bisher angenommenen Vermutung auf, sozial Schwächere seien die hilfsbereiteren Menschen. Die Studie zeige aber auch, wie wichtig es sei, insbesondere soziopsychologische Untersuchungen mehrfach zu wiederholen, so die Forscher.

Menschen, die selbst wenig haben, sind eher bereit, auch anderen Notleidenden zu helfen – so könnte man zumindest meinen. Das ist auch genau das, was bisherige psychologische Studien über das soziale Verhalten von Menschen herausfanden: Angesichts ihrer eigenen schwierigen Lebenssituation kümmern sich Menschen aus den unteren sozialen Schichten stärker um das Wohlergehen anderer als Menschen aus der Mittel- oder Oberschicht. Wissenschaftler um Martin Korndörfer von der Universität Leipzig konnten das allerdings mit ihrer Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift „PLOS ONE“ erschienen ist, nicht bestätigen – im Gegenteil. 

Für ihre Untersuchung durchforschten die Wissenschaftler die Datensätze groß angelegter Erhebungen mit bis zu 37.000 Personen. So werteten sie u. a. die Daten des deutschen sozio-ökonomischen Panel (SOEP) aus, sie nutzten aber auch die Datensätze US-amerikanischer Umfragen und internationaler Untersuchungen. Die Befragten machten Angaben zu ihrer Bildung, ihrem Berufsprestige und ihrem Einkommen. Anhand dieser Informationen ordneten die Psychologen die Studienteilnehmer sozialen Schichten zu. Außerdem gaben die Befragten Auskunft zu verschiedenen sozialen Verhaltensweisen, u. a. darüber, wie viel und wie oft sie für wohltätige Zwecke spendeten und inwieweit sie ehrenamtlichen Tätigkeiten nachgingen. Außerdem wollten die Forscher wissen, wie sich die Teilnehmer in alltäglichen Situationen verhielten, also ob sie bspw. einem Unbekannten im Supermarkt an der Kasse den Vortritt ließen.

Was die Ergebnisse der Analyse über das soziale Verhalten unterschiedlicher Menschen verrieten, habe die Wissenschaftler verblüfft: Verglichen mit Angehörigen aus unteren sozialen Schichten waren Studienteilnehmer der Mittel- und Oberschicht demnach meist gemeinnütziger, hilfsbereiter und freigiebiger. Sie spendeten, prozentual an ihrem Einkommen gemessen, mehr Geld für wohltätige Zwecke und engagierten sich mehr für ehrenamtliche Tätigkeiten. In einem digitalen ökonomischen Spiel, bei dem die Teilnehmer um reales Geld spielten, gaben sie mehr Geld an einen ihnen Unbekannten weiter als die Mitspieler, die sozial schwächer aufgestellt waren. Dieses Verhalten war bei allen gleich – unabhängig davon, in welchem Land die Studie durchgeführt wurde. Grund für die größere Freigiebigkeit der Oberschicht sei vermutlich die Tatsache, dass sozial Stärkere in der Regel absolut betrachtet mehr Geld zur Verfügung hätten und ihnen damit mehr Ressourcen zur Verfügung stünden, so die Forscher. 

„Zu unserem Erstaunen konnten wir das, was in der Psychologie bislang als Wahrheit galt, nicht bestätigen“, erklärt Korndörfer. Die Diskrepanz zwischen ihren Forschungsergebnissen und denen früherer Studien erklären sich die Wissenschaftler damit, dass Psychologen früher vorwiegend kleine Stichproben ausgewertet haben. Außerdem wurden in allen bisherigen Umfragen fast ausschließlich US-amerikanische Bürger befragt, häufig v. a. Studierende, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Klasse kaum unterschieden. „Damit sind die bisherigen Studien nicht wirklich aussagekräftig“, fasst der Psychologe zusammen. 

„Trotz allem sind die neuen Forschungsergebnisse mit Vorsicht zu genießen“, relativiert Korndörfer das Ergebnis. „Denn letztlich handeln besser Gestellte wohl weder immer sozialer als weniger gut Gestellte, noch ist es andersherum.“ Er warnt vor Verallgemeinerungen und betont, dass die Studie nicht unbedingt ein endgültiges Ergebnis präsentiere. Es seien weitere Studien unter präziseren Bedingungen erforderlich, um die neuen Ergebnisse zu verifizieren. 

„Unsere Studie zeigt aber auch die Dringlichkeit von Replikationsstudien“, erklärt Korndörfer. Doch genau darin liege oft das Problem in der psychologischen Forschung: „Die Überprüfung bisheriger Befunde hat für viele keinen Neuigkeitswert und wird von manchen Psychologen sogar komplett abgelehnt.“ Außerdem ließen sich nicht alle Studien eins zu eins wiederholen. „So haben wir oft nur Zufallsergebnisse“, erklärt Korndörfer. „Und die spektakulärsten unter ihnen werden dann gern von der Presse aufgegriffen.“ Ob und inwieweit diese dann tatsächlich repräsentativ sind, sei dahingestellt. 

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