Die Grenzgänger

[Bild der Wissenschaft, April 2012]

Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel – damit gehören sie nicht zu den Lebewesen. Falsch, sagen einige Forscher: Viren sind für die Evolution zu wichtig, um sie aus dem Reich des Lebendigen auszuschließen.

Mit den Viren haben Biologen ihre liebe Not. Denn einerseits spielen die winzigen Partikel eine wichtige Rolle in der belebten Natur, andererseits ist nicht ganz klar, ob man sie selbst zu den Lebewesen zählen kann. Immerhin haben sie keinen eigenen Stoffwechsel, und sie können sich nicht ohne fremde Hilfe vermehren: Viren fehlen die entscheidenden Zellbestandteile, um Energie umzuwandeln, Eiweiße herzustellen und sich selbst zu replizieren. Im Grunde bestehen sie nur aus ein paar Genen, die von einer Eiweißhülle umgeben sind. Bestenfalls kommt noch eine schützende Membran dazu.

Das ist zwar nicht viel, genügt aber, um den eigenen Fortbestand zu sichern – und zwar auf ganz eigene Weise: Viren docken sich an die Zelle an, schmuggeln ihr Erbgut hinein und bringen die biochemische Maschinerie des Wirts dazu, ihre Gene zu kopieren und für das restliche Rüstzeug des Viruspartikels zu sorgen.

Ob dieser Trick allerdings reicht, um die parasitären Elemente als Lebewesen durchgehen zu lassen, ist fraglich. „Alles reine Definitionssache”, meint dazu der Biologe und Philosoph Mathias Gutmann von der Universität Karlsruhe. Denn die Frage, ob Viren lebendig sind oder nicht, gehe mit einem weit grundlegenderen Problem einher: der präzisen wissenschaftliche Definition von Leben. Und genau damit haben Forscher Probleme.

„Leben lässt sich nicht wie ‚Tisch‘ oder ‚Buch‘ definieren, denn Leben ist weder Gegenstand noch Eigenschaft”, sagt Gutmann. Doch er bezweifelt, ob die moderne Biologie überhaupt eine Definition von Leben benötigt. Schließlich spiele es für die Forschung eine untergeordnete Rolle, ob die kleinen Erbgutpakete leben oder nicht. Für die Philosophie dagegen sei es von Interesse, den Begriff präzise zu definieren. Denn: „Definition ist zwar nicht alles, aber ohne Definition ist alles nichts.”

Viren passen in keine Schublade

Solange eine exakte Begriffsbestimmung fehlt, helfen sich Biologen damit, Leben als eine Summe bestimmter Funktionen zu deuten. Demnach muss ein Organismus zumindest in der Lage sein, sich zu vermehren, außerdem einen eigenen Stoffwechsel haben und noch dazu mutieren. Zwar sind Mutationen bei Viren an der Tagesordnung, aber schon für die Reproduktion sind sie auf eine Wirtszelle angewiesen. Und Stoffwechsel? Fehlanzeige. Daher beschloss das „International Committee on Taxonomy of Viruses” im Jahr 2000, Viren nicht zu den Lebewesen zu rechnen. Das war vor zwölf Jahren. Heute scheiden sich in der Fachwelt daran die Geister, und Biologen haben mehr denn je Mühe, Viren einzuordnen.

Schuld daran ist vor allem Mimi – ein Virus, das bei seiner Entdeckung im Jahr 2003 alles über Bord warf, was zuvor über Viren gedacht wurde, und die Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben aufweichte. Denn dieses Virus verfügt über Mechanismen, die bisher nur in Bakterien und Mehrzellern gefunden wurden: Anders als andere Viren, die sich lieber beim Erbgut ihrer Wirtszellen bedienen, bringt das Mimivirus selbst eine Vielzahl von Genen mit, die es für seine Vervielfältigung braucht. Und es enthält Gene mit dem Bauplan für bestimmte Enzyme – sogenannte AARS –, die dabei helfen, Eiweiße aus Aminosäuren zusammenzubauen. Dieser Vorgang heißt Translation und findet normalerweise nur in Zellen statt. Außerdem kann Mimi defekte Gene selbst reparieren – eine Eigenschaft, die man bisher bei Viren nicht kannte.

Dementsprechend umfangreich ist das Erbgut des Virus, das Amöben befällt: Während andere Viren mit maximal 300 Genen bestückt sind, umfasst das Genom des Mimivirus 900 Erbguteinheiten. Damit hat das Virus sogar mehr Gene als manche Bakterien. Außerdem ist Mimi mit knapp 400 Nanometern – das sind 400 Millionstel Millimeter – ein Gigant unter den Viren. Kein Wunder, dass die Forscher es 1992, als sie es im Wasser eines Kühlturms im englischen Bradbury fanden, für ein Bakterium hielten. Es musste elf Jahre im Tiefkühler verharren – bis der Bioinformatiker Jean-Michel Claverie vom französischen Wissenschaftszentrum CNRS in Marseille das Partikel genauer unter die Lupe nahm: Bei dem Versuch, die vermeintliche Bakterienzellwand aufzulösen, stellte der Forscher fest, dass er gar keine Zelle vor sich hatte, sondern ein Riesenvirus.

Viren infizieren Viren

Die Komplexität des Mimivirus stellte alle anderen Viren weit in den Schatten. Bis ein französisches Forscherteam wenige Jahre später einen nahen Verwandten des Riesenvirus entdeckte: das Mamavirus. Wie Mimi wurde es aus einzelligen Amöben im Wasser einer industriellen Kühlanlage isoliert. Es übertrifft das Mimivirus nicht nur an Größe, sondern auch in seiner Eigentümlichkeit. Denn es hat eine für Viren verblüffende Eigenschaft, die sonst nur Lebewesen für sich in Anspruch nehmen können: Das Mamavirus kann selbst von einem Virus befallen werden. Und zwar von „Sputnik”, einem Winzling, dessen Erbgut gerade mal 20 Gene umfasst (bild der wissenschaft 12/2008, „Wenn Viren Schnupfen kriegen”). Bis zu seiner Entdeckung war zwar bekannt, dass Viren alle möglichen Organismen wie Bakterien, Algen, Pilze, Pflanzen, Tiere und Menschen attackieren. Aber dass es auch sogenannte Virophagen gibt – Viren, die andere Viren infizieren –, war vollkommen neu.

Die Riesenviren kurbelten in der Fachwelt die Diskussion an, wo die Grenze zwischen Leben und Nichtleben verläuft. Während für Claverie kein Zweifel besteht, dass zumindest diese Viren lebendig sind, hat Hans-Georg Kräusslich vom Universitätsklinikum Heidelberg seine Zweifel: „Im Grunde ändert sich durch die Riesenviren nichts”, meint der Virologe. Die riesigen infektiösen Partikel würden bloß beweisen, dass Viren komplexer sein können als bisher vermutet – und dass sie ein umfassenderes Erbgut als Bakterien haben können. Dass sie Gene beherbergen, die vorher nicht bekannt waren, findet der Forscher zwar sehr interessant, aber für die Frage des Lebendigen nicht entscheidend. „Außerdem können sie zwar selbst von Viren infiziert werden”, so Kräusslich, „aber auch diese Viren sind nicht fähig, sich ohne fremde Hilfe zu vermehren. Ganz zu schweigen davon, dass sie einen eigenen Stoffwechsel hätten.”

Tödlicher als jeder Krieg

Offenbar bewegen sich Viren an der Grenze zwischen Leben und dem, was man als nicht lebendig bezeichnet. Dennoch haben sie einen immensen Einfluss auf das Leben dieser Erde. Nicht nur, weil sie im letzten Jahrhundert mehr Todesopfer forderten als alle Kriege zusammen. Sondern auch, weil Viren neben Mutationen und epigenetischen Faktoren (sogenannten Gen-Schaltern) ein entscheidender Treibriemen der Evolution sind. Denn die kleinen Partikel sind Meister der Gentechnik und schrauben im Erbgut von Mensch und Tier herum: Sie können ihre Gene in das Genom des Wirts einbauen und Gene von einem Organismus auf einen anderen übertragen. Damit verändern sie das Erbgut massiv.

„Allein etwa 10 Prozent des menschlichen Genoms sind viralen Ursprungs”, erklärt Kräusslich. Und nicht nur beim Menschen, sondern in der DNA aller höheren Lebewesen sind Spuren des Erbguts von Viren zu finden. Diese Gene können dem Organismus zu neuen Funktionen verhelfen und ihm dadurch evolutionäre Vorteile verschaffen: „Viren liefern ihrem Wirt neue Gene und befähigen ihn zum Beispiel dazu, neue Schutzsysteme zu entwickeln”, erklärt Claverie.

Auch Kräusslich vermutet, dass viele biologische Funktionen in Organismen auf einen viralen Ursprung zurückzuführen sind. Das hat die Evolution der Lebewesen maßgeblich vorangetrieben und Viren zu einer bedeutenden Quelle genetischer Innovation gemacht. „Der Einfluss der Viren auf die Evolution ist gigantisch”, sagt der Wissenschaftler. „Ohne Viren wäre die Vielfalt des Lebens auf der Erde nicht denkbar.”

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